E4a PaläodemographiePaläoanthropologische Demographie 

Paul Natterer
2010
8 Seiten
Sprache: Deutsch
Reihe: Aufsätze zur Philosophie der Naturwissenschaften
Ausgabe: PDF-Datei
Format: DIN A4

 

Datenübertragung:

Paläoanthropologische Demographie

Artikelbeschreibung

Am Ende der Altsteinzeit vor 12.000 bis 10.000 Jahren war die Erde in den meisten Teilen von Menschen besiedelt, welche alle Wildbeuter waren, sich also von Sammeln, Jagen und Fischen ernährten. Um 10.000 v. C. liegt die Bevölkerungszahl der Erde dann nach aktuellen Schätzungen in der Größenordnung von 5 bis 10 Millionen Menschen. Die Altsteinzeit, welche von 2, 6 Millionen Jahren bis 12.000 Jahre v. u. Z. dauerte, weist allerdings - so die gegenwärtige paläoanthropologische Forschung - abgesehen von einer vergleichsweise winzigen letzten Phase ein extrem niedriges Bevökerungswachstum auf: „Given what we know about our reproductive capacity and survival under worst conditions, it is puzzling that there were so few of us so much of our history.“ (Pennington, R. L.: Hunter-gatherer demography. In: C. Panter-Brick / R. H. Layton / P. Rowley-Conwy (eds.): Hunter gatherers, Cambridge 2001, 170-204).

Während 99 % der gesamten Menschheitsgeschichte war das jährliche Bevölkerungswachstum praktisch null. Konkret wird das durchschnittliche jährliche Bevölkerungswachstum in der Altsteinzeit in der Forschungsliteratur mit 0,0004 % angegeben. Die 0,0004 % bedeuten, dass eine Gruppe von 30 Personen ca. 10.000 Jahre benötigt, um auf 31 Personen, also auf eine Person mehr, anzuwachsen. Maßgebliche Autoren hierzu sind Deevey, E. S.. The Human Population. In Scientific American 203 (1960), 195–204; Birdsell, J. B.: Human Evolution, Chikago 1972; Hassan, F. A.: Demographic Archaeology, New York 1981. Selbst wenn man den jährlichen Zuwachs mit nach wie vor absurd geringen 0,003–0,004 % ansetzt (so o.g. Autoren für die letzten 10.000 Jahre der Altsteinzeit), welche um einen ein- bis zweistelligen Faktor niedriger als in historischer Zeit (0,1 % unter schlechten Lebensbedingungen) liegen, müsste die heute auf 1 Million Menschen geschätzte Ausgangsbevölkerung vor 300.000 Jahren am Ende der Altsteinzeit  auf mindestens 162 Milliarden Menschen angewachsen sein.

Zum Vergleich: Die Geburtenraten heutiger Wildbeuter liegen bei durchschnittlich 6, die Überlebensraten bis zum Alter von 50 Jahren bei ca. 50 % und das jährliche Bevölkerungswachstum bei kolonisierenden, in einer reichen Umwelt lebenden Gruppen bei bis zu 2 %. Wenn man diese realistischen Werte für die Vorgeschichte zu Grunde legt, hätte es – um dennoch ein Bevölkerungswachstum nahe Null zu erhalten – zwei Mal pro Jahrhundert Populationszusammenbrüche mit der Auslöschung von jeweils ca. 50 % der Weltbevölkerung geben müssen, also insgesamt 40.000 globale Massenextinktionen während der Altsteinzeit. Vgl. die Hochrechnungen bei Hill, K. / Hurtado, A. M.: Ache life history, New York 1996. Ein zweiter Vergleich: Der einzige allgemein anerkannte globale Bevölkerungsrückgang in geschichtlicher Zeit erfolgte im 14. Jahrhundert durch die kombinierte Wirkung der Pest und Dschingis Khans mörderischen Heereszügen und wird von Historikern auf lediglich 2,8 % bis 13,4 % geschätzt.

Unter Zugrundelegung realistischer, empirisch abgesicherter Wachstumsraten wäre somit die Weltbevölkerungszahl von 5 bis 10 Millionen am Ende des Paläolithikums bei 1 % jährlichem Bevölkerungswachstum [entspricht den steinzeitlichen Yanomama in Brasilien und Venezuela] und 100 Personen Ausgangsbevölkerung in 1087 bis 1547 Jahren erreicht. Bei 0,1 % jährlichem Bevölkerungswachstum [entspricht der frühen geschichtlichen Zeit der Antike] und 100 Personen Ausgangsbevölkerung wäre diese Bevölkerungzahl in 10.825 bis 11.519 Jahren erreicht. Diese Vergleichswerte werden im Falle der Besiedlung Nord- und Südamerikas durch die Paläodemographie selbst insofern bestätigt, als sich dort die Bevölkerung in nur wenigen Jahrzehntausenden [Beginn der durchgängigen Besiedlung vor ca. 40.000 Jahren!] bei ähnlicher  paläolithischer Lebensweise wie in der Alten Welt [Beginn der Besiedlung vor ca. 2.000.000 Jahren] so stark vermehrte, dass die  Einführung der Landwirtschaft erzwungen wurde, was stets aufgrund Bevölkerungsdruckes geschieht. Im Hauptstrom der paläoanthropologischen und archäologischen Fachliteratur wird dies als eingestandenermaßen großes Problem behandelt. Man sieht die Problemlösung dort in der Regel jedoch darin, die Daten durch spekulative und empirisch nicht belegbare Zusatzannahmen dem Millionen Jahre dauernden Zeitrahmen des geltenden Paradigmas anzupassen.

Faustkeil [Angemessene Verwendung (fair use) in Bildung und Wissenschaft]Eine kompakte, aber sehr dichte und detaillierte Faktensammlung samt Interpretation im aktuellen Forschungshorizont bietet Michael Brandt: Wie alt ist die Menschheit?: Demographie und Steinwerkzeuge mit überraschenden Befunden, Holzgerlingen 2006. Der Autor ist Mediziner und legt eine Evaluation der gesamten Forschungsliteratur zur Nahrungssituation, Werkzeugproduktion, Siedlungsdichte, Lebensqualität, Epidemiologie, Geburtenraten und Bevölkerungsentwicklung der Steinzeit vor. Das Datenmaterial wird jeweils systematisch mit den Lebensbedingungen und der Demographie heute lebender Wildbeuter verglichen. [Foto rechts, GNU FDL: Faustkeil aus der Steinzeitkultur des Mousterien, datiert auf 300.000 bis 30.000 v.u.Z., Universität Zürich]

Der Übersichtsband ist in dieser Form z.Zt. ohne Konkurrenz, aber noch in weiterer Hinsicht interessant und provokativ, auch wenn der Autor dieser Hinsicht expressis verbis nur kurze vier Seiten am Schluss widmet (2006, 145-149). Denn Michael Brandt ist skeptisch gegenüber etablierten Annahmen zur Geochronologie und zum Zeitrahmen der Evolutionsbiologie, wozu er sich auch und besonders durch die Ergebnisse der in Rede stehenden Untersuchung berechtigt sieht. Dazu kommt ein (evangelikaler) theologischer Hintergrund, der jedoch die auf hohem Niveau stattfindende Sachargumentation selbst nirgends beeinflusst, welche einem methodologischen Naturalismus verpflichtet ist. Es wäre in diesem Zusammenhang für Nichtfachleute wünschenswert, wenn ohne falsche Berührungsängste von Seiten der Synthetischen Evolutionstheorie eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial und den Argumenten Brandts unternommen würde. Der Aufsatz bietet eine Übersicht zu dem Buch.