Kommunitarismus Ethik NetzEthischer Kommunitarismus

Soziologie zu Handlungstheorie und Ethik

Paul Natterer
Reihe: Aufsätze zur Philosophie

2013
21 Seiten
Sprache: Deutsch
Ausgabe: PDF-Datei
Format: 22 x 15,5 cm

 

Datenübermittlung:

Ethischer Kommunitarismus

 

Artikelbeschreibung

Der Kommunitarismus kann als Antwort auf die ungelösten Probleme des liberalen Staates gelten. Einen ersten Überblick hierzu bietet W. Reese-Schäfer: Kommunitarismus, Frankfurt a. M./New York 32001. M. J. Sandel, einer der wichtigsten Vordenker, sagt in dem kommunitaristischen Grundbuch Liberalism and the Limits of Justice (Cambridge 22010 [11982]): Der  Mensch ist nicht ein freischwebendes, atomisiertes, egoistisches Individuum. Er ist nicht nur Rechtsperson in individualisierten Freiheitsräumen, sondern angelegt, in Gemeinschaften, Traditionen, sozialen Bindungen zu leben: „Die Bindungen sind nicht bloß solche der freiwilligen Kooperation, sondern sie sind konstitutiv für die eigene Personwerdung und den eigenen Charakter“ (Reese-Schäfer a.a.O. 2001, 21). Das liberale Konzept der Person ist „parasitisch zu einem Begriff der Gemeinschaft, den sie offiziell verwirft“ (Sandel in: Reese-Schäfer 2001, 22). Der liberale Staat, namentlich unter dem Diktat des Ökonomischen, des egoistischen Kapitalismus und der Globalisierung, führt, so Sandel, in Demokratieverlust und Gemeinschaftsverlust. Anders ausgedrückt: in Kontrollverlust der Bürger und deren moralische Zersetzung. Der Bürger wird nicht befreit, sondern entmachtet. Der Kommunitarismus will nun eine Balance zwischen Autonomie und Ordnung, einen dritten Weg zwischen Individualismus und Kollektivismus.

Die Vordenker des Kommunitarismus beschränken sich trotz ihrer z.T. harten Kritik auf Symptombekämpfung, wenn der  kommunitaristische Ethiker Alasdair MacIntyre Recht hat. Er ist einer der einflussreichsten Moralphilosophen der Gegenwart und Begründer der Tugendethik (virtue ethics). Sein schulbildendes Hauptwerk ist Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1995 [orig.: After Virtue. A Study in Moral Theory, Notre Dame, Ind. 11981]. Reese-Schäfer (a.a.O. 2001, 48): „Der Wert von MacIntyres Denken liegt in seinem eindrucksvollen Zugriff auf die gesamte Tradition der Moralphilosophie“. Und: „Er stellt nicht wie Burke die Tradition und das historisch Gewachsene dem Vernünftigen gegenüber, sondern er meint, es sprächen gute Argumente dafür, das Richtige und Vernünftige gerade in der alten Tugendtradition zu suchen.“ (ebd. 58)

MacIntyre, der ursprünglich vom Marxismus herkommt, formuliert in Kapitel 1 von Verlust der Tugend die These: Die moderne Moral ist eine Scheinmoral aus dem Zusammenhang gerissener, inkohärenter, ungeordneter Bruchstücke einer untergegangenen vernünftigen und gelingenden, objektiven ethischen Normen folgenden Theorie und Praxis. Das Beweisziel von Kapitel 2 ist: Das Fehlen objektiver sachlicher Kriterien und die rational unauflösbaren Widersprüche der modernen Scheinmoral erzeugen den die modernen Kultur faktisch prägenden moralischen Emotivismus: Alle moralischen Urteile sind nichtkognitiver Ausdruck von subjektiven Vorlieben, Einstellungen und Gefühlen und emotional-voluntative Beeinflussung der Einstellungen und Gefühle anderer. Kapitel 3  zeigt: Der Emotivismus löscht den Unterschied zwischen manipulativen und nichtmanipulativen sozialen Beziehungen aus. Der typische Charakter der Moderne ist der Manager und Therapeut als Experte moralfreier beruflicher und privater instrumenteller Vernunft in bürokratischer Organisation resp. Psychotechnik. Der Emotivismus erzeugt zwangsläufig die falsche Alternative zweier unvereinbarer Formen sozialen Lebens: (A) Anarchischer Individualismus und Liberalismus sowie (B) kollektivistischer, bürokratischer Autoritarismus (1988, 55). Die moralische Debatte erscheint als Auseinandersetzung zwischen nach willkürlichen Kriterien gewählten unvereinbaren und unvergleichbaren moralischen Prämissen (A) und (B).

MacIntyre sieht die untergegangene und wieder zu gewinnende vernünftige und gelingende, objektiven ethischen Normen folgende Moraltheorie und -praxis in der aristotelischen Ethik und ihrer Fortführung bei Aquinas, von der auch viele andere Kommunitaristen ausgehen, freilich nicht so gründlich und folgerichtig wie MacIntyre. Er ist aber auch zugleich - wie erwähnt - ein entschiedener Gegner der von Edmund Burke ausgehenden modernen Konservativen. Sie stehen in den Augen MacIntyres für eine tote Tradition, nämlich Tradition als Gegensatz zur Vernunft und Kontinuität als Widerspruch zu Konflikt. Demgegenüber gilt: „Traditionen verkörpern, wenn sie lebendig sind, kontinuierliche Konflikte“ (1995, 296). Und: „Eine Tradition wird durch die eigenen inneren Argumente und Konflikte aufrechterhalten und vorangetrieben.“ (1995, 346-347)