Aufsätze zur Klassischen Philologie und Orientalistik
Zur Begriffsgeschichte des Terms Gemeinsinn (sensus communis)
Paul Natterer
Aufsätze zur Klassischen Philologie
2018
14 Seiten
Sprache: Deutsch
Ausgabe: PDF-Datei
Format: 15 x 22 cm
Datenübermittlung:
Der Begriff Sensus communis
Artikelbeschreibung
In Kants Kritik der Urteilskraft und auch ansonsten bei neuzeitlichen Humanisten, Ästhetikern und Moralisten werden andere Begriffsbedeutungen mit dem Term sensus communis verbunden als in der aristotelischen und scholastischen Wahrnehmungs- und Kognitionstheorie. Die neuzeitliche Verwendung des Begriffs identifiziert denselben mit dem allgemeinen oder gesunden Menschenverstand und den gemeinsamen ästhetischen und moralischen Intuitionen der Menschheit (bon sens, common sense). Sie knüpft nicht an die philosophische resp. psychologische Begriffsbedeutung und damit an Aristoteles an, sondern an die humanistische Begriffsbedeutung bei den römischen Klassikern, wie sie in der Stoa und der römischen Rhetorik, v.a. von Cicero und Quintilian, entwickelt wurde.
Dieselbe wurde in der Renaissance und im Barock unter dem Dach der Rhetorik zu neuer Blüte geführt — als Inbegriff höherer Bildung, philosophischer Orientierung und sowohl wissenschaftlicher wie praktischer, politischer Befähigung. Referenzautor Nr. 1 der weltberühmten und meistverbreiteten Studienordnung der Gesellschaft Jesu war Cicero. Die bis heute maßgebliche erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlegung des Sensus communis in diesem Sinn ist Giambattista Vicos (1668—1744) Scienza nuova. Der Leitbegriff des humanistischen Sensus communis entfaltete auch im Protestantismus und Deismus eine starke Präsenz, namentlich durch Anthony Ashley-Coopers (1671—1713) Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times.
Nach dem Traditionsbruch um 1800 hat in der Moderne Hans-Georg Gadamer dieses Bildungsprogramm neu erschlossen und international zur allgemeinen Geltung gebracht — insbesondere mit dem Hauptwerk Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960 [61990]. Es hat den Anspruch, "die philologisch-historischen Studien und die Arbeitsweise der Geisteswissenschaften auf diesen Begriff des Sensus Communis zu gründen“ (a.a.O. 28). Sache und Begriff des Sensus communis haben damit heute wieder eine ungeheure Bedeutung erlangt
Der Aufsatz skizziert einmal die Begriffsgeschichte dieses Terms. Zum anderen bestimmt er dessen Begriffsimplikate bzw. deren Analoga in den drei gebräuchlichsten kognitiven Architekturen der Gegenwart: (1) Aristotelisch-scholastisches Paradigma — (2) Kantische Theorie der Erfahrung — (3) Interdisziplinäre Kognitionswissenschaft.