Wladimir N. Brjuschinkins Kritik der kantischen Urteilstafel im Kontext der Kantforschung und der Grundlagendiskussion zu logischen Konstanten

Paul Natterer
Aufsätze zur Logik und Wissenschaftstheorie

2019
15 Seiten
Sprache: Deutsch
Ausgabe: PDF-Datei
Format: DIN A 4

 

Datenübermittlung:

Brjuschinkins Kritik der kantischen Urteilstafel

Artikelbeschreibung

Wladimir Brjuschinkin [engl. Transkription: Vladimir Bryushinkin] (1953—2012) ist bzw. war einer der profiliertesten Logiker, Kognitionswissenschaftler und v.a. Kantforscher in Russland. Sein Wirkungsfeld war seit 1983 die Universität Kaliningrad, deren philosophisches Institut er 1996 und deren Institut für Kantforschung er 2008 begründete: Beide erwarben unter seiner Leitung einen sehr guten, ja bedeutsamen Ruf. Im Jahre 1990 war er MItbegründer und seitdem Vizepräsident der Russischen Kant-Gesellschaft und seit 2008 Herausgeber und Chefredakteur der Fachzeitschrift der russischen Kantforschung Kantovski Sbornik. In den letzten Jahrzehnten war er sicherlich der bekannteste russische Kantforscher im Westen, der auch in den Kant-Studien publizierte. Er hat wesentlich dazu beigetragen, dass Kants Heimatuniversität in Königsberg, heute Kaliningrad, den Namen ‚Baltische Föderale Immanuel-Kant-Universität‘ erhielt (Immanuel Kant Baltic Federal University).

Ein vielbeachteter Interessenschwerpunkt Brjuschinkins und seiner Arbeitsgruppe war das Zusammenbringen der kantischen Kognitionstheorie mit der Kognitionswissenschaft und Künstlichen Intelligenz der Gegenwart zwecks logischer Modellierung der Denkprozesse. Deswegen scheint mir, dass man seine Studie über die kantische Urteilstafel als einen substantiellen Beitrag zu diesem viel verhandelten Thema betrachten sollte. In vollem Wortlaut ist der Titel Vladimir N. Bryushinkin: On Logical Errors in Kant’s Table of Judgements. In: V. N. Bryushinkin / V. A. Chaly (eds.): Kantovski Sbornik. Selected Articles 2008—2009, Kaliningrad: Immanuel Kant Baltic Federal University Press, 2011, 9—23.

Brjuschinkins Kritik wird in vorliegendem Papier in neun Schritten oder Thesen zusammengefasst, möglichst im Wortlaut wiedergegeben und kommentiert. Im Anschluss evaluieren wir sie gegen den Hintergrund der einschlägigen aktuellen Veröffentlichungen in Deutschland, Frankreich und im angelsächsischen Raum: insbesondere die Monographien von Michael Wolff und Béatrice Longuenesse sowie Reinhard Brandt, dessen etwas ältere Studie bei Wolff rezipiert und ausgewertet wird.

Wie die Geschichte der Analyse und Einteilung der Urteilsformen gerade auch im 18. Jh. zeigt, kann man dabei durchaus auf verschiedene Weise vorgehen und zu anderen Ergebnissen kommen. Noch stärker zeigt diese Varianz in Vorgehen und Ergebnis die Diskussion der logischen Konstanten oder Junktoren in der logischen Grundlagenforschung des 20./21. Jh. Man denke nur an Freges Reformulierung der klassischen Begriffslogik, welche die traditionelle Unterscheidung zwischen kategorialen Termen (Subjekte, Prädikate) einerseits und synkategorematischen logischen Konstanten (Konnektive und Quantoren) andererseits als Theorie von Aussagefunktionen rekonstruiert, was Art und Umfang der logischen Konstanten stark modifiziert. Noch stärker gilt das für den sogenannten Hilbert-Kalkül. Deswegen erörtern wir abschließend das Thema auf dem Hintergrund des aktuellen Diskussionsstandes zu logischen Konstanten — unter Bezugnahme auf die Untersuchungen von Carnap, Lenk, Seebohm, Warmbrod und MacFarlane.